DiverCity Art
09.2006:
DiverCity Art
Kunst und Kultur im real existierenden Berlin
Migration ist ein globales Phänomen, das das Lebensgefühl und die kulturellen Interessen im 21.
Jahrhundert nachhaltig beeinflusst: immer mehr Menschen identifizieren sich nicht mehr mit
einer Herkunftskultur, sie setzen dagegen eigene biografisch begründete Entwürfe, gewonnen aus
der Diversität sozialer und kultureller Kontexte, in denen sie sich bewegen. Art in Diversity, sprich
die öffentliche Inszenierung eines künstlerischen Schaffens, das das plurale interaktive Geschehen
in Bezug auf Gender, Kultur, Religion, wie auch kollektive historische und soziale Erfahrungen
im kulturellen Angebot einer Stadt angemessen widerspiegelt, ist heute die große kulturpolitische
Gerade in Deutschland, wo Kultur mit international beispielhafter Tradition als staatliche und
damit auch politische Aufgabe gesehen wird, wirkt Kulturpolitik im Verhältnis zu diesen global,
national wie auch lokal spürbaren gesellschaftlichen Herausforderungen unaufgeklärt und retardierend,
entwickelt demzufolge auch keine eigenen Antworten auf die Herausforderungen neofaschistischer
Gruppen, obgleich diese Rassismus zunehmend in kulturalistischer Argumentation
verbreiten und sich mit gefährlicher Resonanz als (sub-) kulturelle Bewegung mit Anspruch auf
Bewahrung nationaler Identität inszenieren.
Diese Kritik gilt auch für Berlin, einer Stadt, die sich gerne als Modell einer Integrationswerkstatt
sieht. Wer sich nicht von dem Berliner Megaevent Karneval der Kulturen blenden lässt, vielmehr
unter dem Eindruck des Aktivierungsmoments und der Popularität dieser Veranstaltung die Kulturpolitik
der letzten Jahrzehnte, die Förderpraxis der Kulturverwaltung und die Programme der
meisten namhaften Kultureinrichtungen bis heute kritisch würdigt, wird bestätigen: die Berücksichtigung
kultureller Diversität ist in Berlin, einer Stadt mit Metropolen-Anspruch, keine Leitkategorie,
bleibt seit über 20 Jahren reduziert auf kleinteilige interkulturelle Projektförderung, bleibt
idealistische Zugabe, wenn nicht herablassendes Zugeständnis an die zu „Neubürgern“ gewordenen
Gastarbeiter und Flüchtlinge, bleibt jedenfalls Randthema abseits der großen Debatten um
zeitgenössische Kunst und zeitgemäße Kunstförderung. Die lokale Internationalität, oder weiter
gefasst: die kulturelle Diversität in der ganzen Komplexität moderner urbaner Gesellschaften entwickelt
so kein künstlerisches und kulturbildendes Momentum und müht sich weit unter den eigenen
Möglichkeiten, aber auch weit unterhalb internationaler Trendsetter wie England oder USA.
Es ist schlicht Gebot demografischer Vernunft, dieses Thema als eine zentrale Frage kommunaler
wie nationaler Kultur zu diskutieren. Noch vor zehn Jahren hatte nur jedes fünfte neugeborene
Kind in Berlin Migrationshintergrund. Heute liegt diese Zahl bezogen auf Gesamtberlin bei 34%.
Diese Dynamik setzt sich fort. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem jede Kultureinrichtung,
die nicht auf diese Entwicklungen eingeht, qua Legitimationsdefizit und Mangel an Zuschauern in
der eigenen Existenz bedroht ist.
In einer Welt, in der hybride Lebensläufe zur Norm werden, in der die Bereitschaft zur Mobilität
und die Fähigkeit zur permanenten Neujustierung der eigenen Lebensumstände als Schlüsselqualifikationen
nicht nur für das Berufsleben gelten, sind Künstler (wie so oft) die Treiber: Sie nutzen
Verunsicherung als Motor der künstlerischen Entwicklung, sie bedienen sich virtuos ihrer vielgestaltigen
Horizonte und demonstrieren so eindrucksvoll den Mehrwert kultureller Mehrfachzugehörigkeit.
Ihr künstlerisches Schaffen unterstützt also beileibe nicht nur die Re-Konstruktion ihrer
eigenen Identität in einer potentiell von Fragilität, Unsicherheit und Bedrohung gekennzeichneten
Situation – es bereichert darüber hinaus sowohl die kulturelle Landschaft Deutschlands, wie
es auch als Modell für Andere (Deutsche wie Nicht-Deutsche) dient, die sich, egal aus welcher
biografischen Perspektive, den Herausforderungen der globalisierten Welt stellen müssen.
Gerade in Berlin, jener Stadt, in der nationalstaatlich geförderter Monokulturalismus in der Blutund
Bodenideologie des Nationalsozialismus seine extremste Ausprägung erfahren hat, gilt es,
kulturelle Diversität als immanentes Prinzip nationaler wie lokaler Kultur zu begreifen, gilt es,
kulturelle Diversität über die in der Stadt aktiven Künstler in integrativen Förderstrategien lebendig
und mit hoher Attraktivität für das sozial wie kulturell heterogene Publikum zu inszenieren.
Durchaus im Sinne einer Selbstverpflichtung der im Rat der Künste versammelten Kulturschaffenden
drängen wir darauf, im übergreifenden Sinn ernst zu machen mit der interkulturelle Öffnung
im Bereich der Kulturverwaltung wie auch in der von ihr zu ordnenden Infrastruktur.
Im Einzelnen fordern wir:
I den Fonds für interkulturelle Projektförderung als Einstiegs- und Basisförderung für
Nachwuchskünstler und ebenso für neu in die Stadt gezogene Künstler mit nichtdeutschem
Hintergrund zu erhalten und finanziell aufzustocken.
Arbeit und Ergebnisse dieses Fonds müssen notwendig qualifiziert werden durch
+ Berufung einer fachlich seriös besetzten, unabhängigen Jury
+ durch Bewilligung angemessener Finanzierungsbeiträge, die die Produktion
von qualitativ überzeugenden Ergebnissen ebenso wie eine wirksame Werbung
möglich machen.
II bezirkliche Kulturarbeit diesbezüglich mit definierten Schwerpunkten in Quartieren,
die einen hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung ausweisen, zu stärken und durch
geeignete Instrumente Konzeptentwicklung und Erfahrungsaustausch unter den Bezirken
und mit Kommunen außerhalb von Berlin zu stärken.
III Das Prinzip kultureller Diversität über eine qualifizierte Besetzung wie auch in der
Vergabepraxis der Gremien aller Förderfonds im Zuständigkeitsbereich der Senatsverwaltung
für Wissenschaft, Forschung und Kultur einzuführen und im Ergebnis der Vergabe
entscheidungen öffentlich zu dokumentieren (vgl. dazu die veröffentlichten Förderlisten
des HKF).
IV Über Anforderungsprofile bzw. Zuwendungsbescheide die öffentlich geförderten
Kultureinrichtungen rechtswirksam zu verpflichten, zukünftig kulturelle Diversität als
ein relevantes Leitprinzip in die Konzeption und Praxis der jeweiligen Einrichtungen zu
integrieren und entsprechende Initiativen im Ergebnis zu dokumentieren.
V Zur Unterstützung dieser Vorgabe ein zeitlich befristetes Förderprogramm aufzulegen,
das die Berliner Einrichtungen ihrem diesbezüglichen öffentlichen Auftrag entsprechend
anregt, mit spezifischen Angeboten gezielt und nachhaltig neue Besuchergruppen in der
multikulturellen und partiell schon „kreolisierten“ Bevölkerung Berlins zu erschließen
(vgl. das Sonderprogramm der Bundeskulturstiftung)
VI Berliner Hochschulen und Institute, an denen Künstler und Kulturschaffende ihre
Ausbildung erfahren, rechtswirksam zu verpflichten, kulturelle Diversität als Leitkompetenz
für zukünftige Kultur- und Kunstproduktion in die Lehrpläne aufzunehmen und die
entsprechenden Inhalte durch Berufung geeigneter Lehrkräfte sachgerecht zu vermitteln.
V
II Art in Diversity im Bereich kultureller Bildung mit Vorrang zu berücksichtigen, um
über diesen Weg hier lebende Künstler im Bildungssektor als Vermittler interkultureller
oder hybrider Lebensentwürfe und künstlerischer Positionen einzusetzen und die soziale
Realität der multikulturellen Stadt Berlin mit den Mitteln der Kunst nahe am Erleben der
Menschen zu reflektieren und zu bearbeiten.
VIII Im Sinne einer nachhaltigen Qualitätskontrolle alle zwei Jahre ein Fachforum „Art in
DiverCity“ einzuberufen, das den Stand der Entwicklungen reflektiert, den Erfahrungsaustausch
unter Kulturschaffenden wie auch in der Diskussion mit der Verwaltung organisiert
und als Beratungsinstitut des Senators/der Senatorin und der Politik ggf. auf Handlungsdefizite
(Shermin Langhoff, Andreas Freudenberg im Sept. 2006)