Molkenmarkt: Stellungnahme Rat für die Künste & Koalition der freien Szene
23.6.2022
Als die beiden größten spartenübergreifenden Kunst- und Kultur- bzw. Künstler*innenvertretungen in
Berlin, der Rat für die Künste und die Koalition der Freien Szene, begrüßen wir die zukunftsweisenden
Pläne für die Schaffung eines Kulturquartier Molkenmarkt. Hier entstehen nicht nur jene Flächen, die
die Kultur in Berlin dringend für Produktion und Präsentation braucht, sondern es geht auch darum, ein
lebendiges vielfältiges Zentrum für Stadt Berlin und die Berliner*innen im Sinne des Gemeinwohls zu
konzipieren.
Wir möchten mit diesem Schreiben fachlich Stellung beziehen zum laufenden
städtebaulichen
Wettbewerb und aus unserer Expertise entscheidende Aspekte vorbringen, die für
künftige erfolgreiche
kulturelle Nutzungen von institutionellen und freien Kulturakteur*innen
ausschlaggebend, ja
grundlegend sind. Beispielhaft hierfür ist die partizipativ erarbeitete und
parlamentarisch beschlossene Charta der Alten Münze:
https://www.koalition-der-freien-szene-berlin.de/AG_Alte_Muenze/Charta_Alte_Muenze.pdf
In einem dem aktuellen Wettbewerb vorangestellten Werkstatt- und
Beteiligungsverfahren wurden
Leitlinien für die Quartiersentwicklung verbindlich festgelegt. Diesen folgend
soll das neue Quartier „ein
Ort der Kultur und Kreativität“ werden, die Kultur soll als zentraler
„Quartiersöffner“ fungieren und weiter:
„Der Molkenmarkt ist dabei
nicht nur Schnittstelle zu den Kulturkonsument*innen,
sondern auch Ort der
Produktion und Vermittlung von Kultur. Dafür entstehen neben
Ausstellungs- und
Veranstaltungsräumen auch Atelier- und Arbeitsräume. Einer
Verdrängung der bestehenden
Institutionen und kulturellen Freiräume wird
entgegengewirkt und zusätzlich
werden neue Möglichkeiten geschaffen.“ Leitlinien
Molkenmarkt
Mindestens 18.500 Quadratmeter Nutzfläche für die Kultur sollen
dafür im neuen Quartier entstehen,
zwischenzeitlich war im Beteiligungsverfahren sogar die Forderung von „bis zu
40% aller entstehenden
Flächen“ laut geworden. Angesichts dieser besonderen öffentlichen Anerkennung
der Rolle der Kultur
für die Stadt und ihrer dauerhaften Bedeutung im und für den Molkenmarkt sehen
wir eine Dringlichkeit
und Notwendigkeit, unsere Anforderungen an das neue Quartier und unsere
Einschätzung der beiden
Entwürfe vor- und einzubringen. Unsere Einschätzungen beziehen sich auf die
Entwürfe laut
Ergebnisprotokoll und die Überarbeitungen, die in den Kolloquien und
Bürgerwerkstätten vorgestellt
worden sind.
Der Entwurf von Albers / Malcovati orientiert sich am Stadtgrundriss von 1910
und setzt mit seiner teils
gründerzeitlichen Haustypologie auf eher schmale Haustypen und Townhouses mit
Hausbreiten von
teils unter 4 Metern. Zahlreiche Erschließungskerne mit Aufzügen und
Treppenhäusern werden
benötigt. Dadurch und durch die Anzahl der Einzelhäuser steigen Bau- und
Betriebskosten.
Grundrissveränderungen sind nur sehr eingeschränkt möglich und Barrierefreiheit
ist je nach Einheit
aufwändig herzustellen. Kulturelle Nutzungen werden vor allem in den vom
Durchgangsverkehr in der
Aufenthaltsqualität beeinträchtigten Randbereichen an der Grunerstraße und
Stralauer Straße
angeordnet.
Der Entwurf OS arkitekter setzt in der Flächenaufteilung auf die Basis einer
Skelettstruktur aus Holz mit
einem Stützenabstand von 4,80m und 6m. Durch die Skelettstruktur sind
Grundrisse auch später noch
variabel und können an wechselnde Bedürfnisse über die Zeit mit großer
Flexibilität angepasst werden.
Eine geringe Zahl an Erschließungskernen mit Treppen und Aufzügen senken die
Bau- und
Betriebskosten und erhöhen die Kontaktqualität der Anwohnenden. Die Anordnung
der kulturellen
Nutzungen erfolgt im Quartiersinnenbereich mit hoher Aufenthaltsqualität und in
Verschränkung mit
dem öffentlichen Raum an einem „Kulturpfad“ von der Alten Münze zur Ruine der
Klosterkirche.
Auf die Entwürfe bezugnehmend sind folgende Aspekte uns als zukünftigen
kulturellen Nutzer*innen
mit einer Teilhabe am Quartiersleben besonders wichtig:
1. Bezahlbare Miet- und
Betriebskosten sind für eine nachhaltige Ansiedlung
unterschiedlicher
kultureller Nutzungen, die teilweise über begrenzte finanzielle Mittel
verfügen, aber auch für eine soziale
Durchmischung des Quartiers essentiell. Bauweisen mit zahlreichen
Erschließungskernen (viele
notwendige Aufzüge und Treppenhäuser) sind aus unserer Sicht zu vermeiden, da
sie zu höheren
Betriebskosten führen. Schmale Häuser sind nach den Erfahrungen aus Frankfurt /
Main und anderen
Städten mit sehr hohen Baukosten verbunden und es drohen dadurch hohe Miet- und
Betriebskosten.
Als Bauherrin hat die Stadt Berlin auf einem der letzten landeseigenen
Grundstücke hier eine hohe
Verantwortung, den Kosten- und somit Verwertungs- und möglicherweise sogar
Privatisierungsdruck so
gering wie möglich zu halten. Diesbezüglich steht auch das Preisgericht in
einer Schlüsselposition mit
hohen gesellschaftlichen Erwartungen.
2. Flexibilität und
Partizipation sind im Hinblick auf ein langfristig lebendiges
und sich
zukunftsweisend (weiter-)entwickeln könnendes Stadtquartier von hoher
Bedeutung. Auch wenn man
initial für den Bau zunächst ein Set an Grundrissen definiert, ist eine
Veränderlichkeit dieser in Hinblick
auf sich wandelnde Arbeitsformen und -strukturen und damit Anforderungen
kultureller Nutzer*innen
notwendig und damit nachhaltig. Zugleich garantiert die Partizipation der
Nutzer*innen an und in der
Architektur ein sich organisch entwickelndes Quartier, das auch auf ungeplante
Entwicklungen
reagieren und die Weiterentwicklung von künstlerischen und kuratorischen
experimentellen Nutzungen
berücksichtigen kann. Die Geschichte Berlins nach dem Mauerfall hat gezeigt,
dass erfolgreiche
Quartiersentwicklungen ein hohes Maß an Partizipation sowie Freiräume zur
Mitgestaltung erfordern.
In den acht Leitlinien zum Molkenmarkt heißt das „Berliner Mischung“. Dafür
sind auch architektonisch
offene Strukturen wesentlich, die von Kulturakteur*innen individuell angeeignet
werden können. Dass
Grundrisse rekonfigurierbar sind und Spielräume eröffnen, dass Gebäudebreiten
eine Variabilität von
Erweiterung genauso wie der Reduktion von Raumgrößen grundsätzlich erlauben und
Entwürfe sich an
Nutzbarkeitskriterien messen lassen müssen, halten wir für selbstverständlich.
Sehr schmale Häuser,
die nur geringe Variabilität der Grundrisse ermöglichen, mit vielen
Treppenhauskernen und
Brandwänden, zerschneiden potenzielle Optionsflächen und schränken Flexibilität
stark ein. Darüber
hinaus sind z.B. Galeriehäuser mit einer Breite von teils unter 4 Metern, wie
sie von Albers / Malcovati
an der Parochialgasse angeordnet werden, nach unserer Auffassung für diese
Nutzung nur extrem
eingeschränkt geeignet und nicht nutzungsorientiert konzipiert.
3. Vernetzung,
Barrierefreiheit und Diversität sind neben einem Fokus auf
Nachhaltigkeit wichtige
Aspekte, für die wir uns als Kulturakteur*innen seit Jahren engagiert
einsetzen. Eine Anordnung
vielfältiger Kultur-Nutzungen entlang von attraktiven öffentlichen Räumen mit
hoher Aufenthaltsqualität
halten wir für richtungsweisend für die Stadtzentren von morgen, die sich nicht
länger über
Einkaufszeilen und auch zukünftig nicht über exklusive Wohnlagen beleben
lassen. Kulturangebote
können einen Kiez beleben, aber zusätzlich bedarf es grundlegender Parameter
wie zum Beispiel ein
integratives Denken unter den verschiedenen Nutzungsinteressen und nicht eine
Parzellierung in
Funktionseinheiten, die sich möglichst nicht berühren. Durch die Situierung der
Kultur im Zentrum des
neuen Quartiers Molkenmarkt werden (bereits bestehende und neu entstehende)
Nutzungen
miteinander verknüpft und verschränkt, entstehen öffentliche soziale Räume und
öffnet sich der Stadtteil
hin zu anderen Stadtteilen genauso wie zu seinen komplexen historischen
Zusammenhängen. So lässt
sich etwas wie ein „Kulturpfad“ tatsächlich vom touristischen Hinweisschild in
eine belebte und
durchlässige Stadtlandschaft übersetzen. Für ein vielfältiges öffentliches
Leben sind aber auch
Exklusionen von einkommensschwächeren Haushalten (durch höhere Bau- und
Betriebskosten) sowie
bauliche Barrieren (durch viele Erschließungskerne) dringend zu vermeiden.
Darüber hinaus sind
Gemeinschaftsanlagen sowohl von Verkehrsflächen als auch von Erholungsräumen
und Grünflächen
für das Ausbilden einer Quartiersgemeinschaft und das Entstehen eines
berlintypischen Kiezes
unverzichtbar.
Aus unserer Sicht erfüllt
der Entwurf von OS arkitekter die Bedürfnisse kultureller Nutzer*innen und
eines sich organisch
entwickelnden Quartiers wesentlich besser als der Entwurf von Albers /
Malcovati.
Deshalb sprechen sich der
Rat für die Künste und die Koalition der Freien Szene dafür aus, den Entwurf
von OS arkitekter allen weiteren
Planungen zugrunde zu legen.