Stellungnahme: Urbane Praxis
Initiative der AG Urbane Praxis, Mai 2020
URBANE PRAXIS, mit + nach Corona
Berlinerinnen und Berlin erleben zur Zeit, wie sich der Alltag in der Stadt unter den Einschränkungen für Kultur, Begegnung und Bewegungsfreiheit massiv verändert. Auch während der kommenden Sommermonate werden viele zu Hause bleiben müssen, Reisen, Festivals und Sommercamps fallen weg. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Personen und Gruppen, die auch ohne Pandemieschutzauflagen mit großen sozialen Herausforderungen und Gefährdungslagen zu kämpfen haben, durch häusliche Enge und Isolation zusätzlichen Risiken ausgesetzt sind.
Familien, Seniorinnen, alleinerziehende Mütter und Väter, Jugendliche und besonders auch Kinder suchen lebendige Alternativen außerhalb der eigenen vier Wände. Menschen ohne Wohnung und Obdach benötigen Anschluss und Partizipation. Allgemein gilt: Die Menschen in der Stadt brauchen jetzt mehr Raum! Freiflächen, die Vielfalt ermöglichen und die nah an den Wohngebieten liegen und wo sich alle bei Bedarf auch aus dem Weg gehen können. Es braucht Platz zum Zusammenkommen, Gärtnern, Gestalten, Bauen und Spielen, mit und – hoffentlich bald – ohne Abstandsauflagen.
„Die Draußenstadt“: Wir brauchen mehr Platz zum Ausprobieren! Im Zuge der Erfahrungen mit der Coronakrise wird es noch dringender, Ideen und Konzepte für die Zukunft der Stadt zu erproben. Dafür sollen in jedem Bezirk experimentelle Zukunftslabore eingerichtet werden. Berlin hat bereits spannende Feldversuche und architektonische Überraschungen erlebt, richtungsgebend von der Initiative raumlabor. Gemeinsam mit Partnern aus Kunst und Kultur könnten die konzeptionellen Linien und Umsetzungsprozesse erarbeitet werden. Zur Erschließung der neuen Flächen und Räume ist die aktive Unterstützung von Land und Bezirken gefordert: Brachen, Plätze und leerstehende Gewerbeflächen sollen unkompliziert und kurzfristig an Initiativen und Projekte vergeben werden, die in herausfordernden Berliner Sozialräumen kreative Erlebnis- und Lernorte, Aktions- und Bewegungsräume für und mit Nachbarschaft einrichten.
In Zusammenarbeit mit Museen, Literatur- und Konzerthäusern, Tanzinitiativen, Opern und Theater, die eigene Impulse einbringen, können hier neue Trainings- und Veranstaltungsformen erprobt werden. Orientierung bieten die „Kreativen Stadtwerke“ mit dem Pilotprojekt in Marzahn sowie die zugehörigen vier „Bauhütten“, die aktuell von den Partnern S27, Prinzessinnengärten und BERLIN MONDIALE entwickelt werden; am Südstern die floating university, die initiiert von raumlabor eine breite und vielfältige Kooperationsstruktur zwischen Kunst, Wissenschaft und Nachbarschaft innerstädtisch anbietet. Zudem sollen Areale, die bereits gute Voraussetzungen für großräumige Stadt/Kulturflächen und Bildungsräume bieten, weiter unterstützt und ausgebaut werden. Dringend gilt es in diesem Kontext, das Gesamtprojekt Haus der Statistik abzusichern, in dem raumlabor, ZKU und S27 mit anderen Partnern zusammenwirken. Akut ist das gärtnerische Experiment der Prinzessinnengärten auf dem Neuköllner Jakobifriedhof von der Schließung bedroht.
Es braucht nun den politischen Willen aller Demokratinnen, die wichtigen Stadtlabore für die Berlinerinnen zu sichern. Langjährig ungenutzte grüne Oasen inmitten von Hochhaussiedlungen, wie etwa der alte Schulgarten am Neuköllner Dammweg, sollen geöffnet werden. Die mischfunktionale Nutzung von bezirks- und landeseigenen Flächen und Räumen zu künstlerischen und soziokulturellen Zwecken erfordert der Dringlichkeit entsprechend nun schnelle Abstimmung zwischen der Exekutiven, der BIM und den bezirklichen Liegenschaftsverwaltungen, denn die Akteurinnen der Urbanen Praxis sollen stadtweit und schnellstmöglich mit Zwischen/Nutzungsverträgen und Aktionsmitteln (Stichwort „Projektfonds Urbane Praxis“) ausgestattet werden.
Auch schlagen wir vor, der bereits von Seiten der Kulturverwaltung angedachte Expertinnen-Pool zur Beratung der Akteurinnen und als Schnittstelle zu beteiligten Ämtern und Behörden umgehend einzurichten, um zügig in Richtung Sommerferien in herausfordernden Berliner Sozialräumen kreative Aktionsräume und Freiflächenprojekte eröffnen zu können.
„Teilhabe stärken, Zugänge erleichtern“
– Bezug zu den Richtlinien der Regierungspolitik, „Kultur und Europa“ / Drs. 18/0073, S. 49
Stadt in der Krise – Stadt der Zukunft
Die schwierige Zeit der Pandemie kappt nicht nur unsere Austauschmöglichkeiten und den Bewegungsradius, sie führt uns deutlich vor Augen, wie Probleme des Klimawandels und der wachsenden Stadt kulminieren: wir können mit Maßnahmen gegen das Virus allein die Stadt nicht krisenfest machen, weil Corona nur eine Krise von vielen ist – wir brauchen Antworten auf die Frage, wie die Stadt in Zukunft funktioniert und wie wir darin miteinander leben wollen.
Die unterschiedlichen Teilhabe- und Zugangschancen zu Kultur, Bildung, Arbeit und Gesundheit werden in Zeiten der Coronakrise noch deutlicher sichtbar und spürbar. Mit einem Blick auf den Regionalen Sozialbericht für Berlin und Brandenburg 2019 werden die Herausforderungen nach Corona massiv steigen: jede/r Fünfte in Berlin ist bereits heute von Armut bedroht, die Armutsrate bei Kindern und Jugendlichen liegt laut Sozialbericht gar bei 29 %. Es besteht die Gefahr, dass durch drohende Arbeitslosigkeit die finanzielle Armut unter den Berlinerinnen noch ansteigt und dass Unterstützung für Bildung und Teilhabe speziell für benachteiligte junge Menschen wegfällt. Dringend müssen Haushaltskürzungen in den Schlüsselbereichen vermieden werden, es gilt nun, Kultur, Kulturelle Bildung, Bildungszugänge für alle und Innovationen für soziale Stadtentwicklung ganz nach oben auf die Prioritätenliste zu setzen, gleichzeitig sollen nachhaltige Mobilitätskonzepte umgesetzt werden.
Wir setzen auf Interdisziplinarität in Verbindung mit kluger Sparsamkeit: mit ressortübergreifender Zusammenarbeit können die Ziele der neuen Stadt mit all ihren sozialen, kulturellen, ökologischen und ökonomischen Transformationen synergetisch erarbeitet und in Etappen auch unter schwierigen Haushaltslagen erreicht werden, es braucht nun intermediäre Abstimmung und gemeinsame Visionen, die den Spirit einer Wende tragen: Bürgerschaftliches Engagement, weitsichtige Politik und personell gut aufgestellte Verwaltung können Hand in Hand die Prozesse anschieben. Der Rat für die Künste unterstützt als Impuls- und Entwicklungspartner die anstehenden Transformationen, mit und nach Corona. Dringend wünschen sich die Initiatorinnen aus der AG schnelle Verständigung mit den Verantwortlichen aus Kultur und Stadtentwicklung zur Umsetzung der „Draußenstadt“.
AG URBANE PRAXIS: Markus Bader, Eva Maria Hoerster, Dr. Sabine Kroner, Barbara Meyer, Anton Schünemann, Danilo Vetter (AG Kontakt: Barbara Meyer b.meyer@s27.de)