Kulturelle Prüfsteine: Zukunftssicherung für Berlin
01.12.2007:
Kulturelle Prüfsteine für Berlin
Zukunftssicherung durch Kunst und Kultur
Der Rat für die Künste vertritt als gewähltes Gremium die Berliner Kultur, ist unabhängig und sein Spektrum umfasst Institutionen ebenso wie freie Künstler. Die Mitglieder des Rats gestalten täglich vor Ort die kulturelle Zukunft der Stadt und verkörpern eine neue Generation von Kulturverantwortlichen. Neu ist: Kultur nimmt Bildung nicht als etwas Separates wahr: Gegenseitige Bedingtheit schafft neue Handlungs(spiel)räume für die Kultur. Kultur gilt uns nicht als gesellschaftliche Zutat, sondern als Trainingszentrum für den Sozialisationsgrad der Gesellschaft – insofern hat der Rat für die Künste einen konkreten Ausgangspunkt, von dem er sich bestimmt, formiert und handelt. Die Selbstorganisation ermöglicht schnelles Reagieren – unverordnet und aus der unmittelbaren Praxis. Wirtschaftliche Umstrukturierungsprozesse verändern die Städte. Traditionelle Produktionsbereiche verlieren angesichts technologischen Fortschritts ihre Funktion, während die kreativen gesellschaftlichen Bereiche an Bedeutung gewinnen. Alle relevanten Berlin-Studien der letzten Jahre bestätigen, dass Kultur und Wissenschaft eine entscheidende Rolle als Zukunftsressource für die Stadt spielen werden. Für die grundlegenden Umwälzungen der nächsten Jahre gibt es noch keine verabredeten Kriterien und erprobten Strategien. Ein gemeinsamer Diskurs aller gesellschaftlichen Kräfte wird notwendig sein, um gangbare Wege zu finden, die sowohl die Attraktivität der Stadt für Unternehmensansiedlungen und Besucher/innen als auch die Lebensqualität für ihre Bewohner/innen sichern und verbessern. Die Kompetenzen von Wissenschaft und Kultur sollten dabei genauso gleichberechtigt von der Politik berücksichtigt werden, wie die der Wirtschaft und der Sozialverbände. Um den Anforderungen der Zukunft gerecht werden zu können, müssen die Menschen der Gegenwart und Zukunft ein hohes Maß an kultureller Kompetenz und kreativer Phantasie besitzen, das sie sich durch die Begegnung und im Umgang mit Kunst und Kultur aneignen können, wobei der Rat für die Künste die besonderen Herausforderungen sieht, – die sich aus einem produktiven Umgang mit kultureller Diversität ergeben. Berlin als von Migration geprägte Stadt muss kulturelle Vielfalt als Ressource begreifen, die künstlerische Zukunft sichert. Es gilt, kulturelle Diversität als immanentes Prinzip nationaler wie lokaler Kultur zu begreifen und kulturelle Diversität über die in der Stadt aktiven Künstler in integrativen Förderstrategien lebendig und mit hoher Attraktivität für das sozial wie kulturell heterogene Publikum zu inszenieren; – die in der Erkenntnis wachsender sozialer Teilung und Abgrenzung (Segregation) und Bemühungen um deren Eingrenzung liegen, die eine Gemeinschaft in reiche und arme Regionen, in reicher und ärmer werdende soziale Schichten aufteilt und auf die mit stärkerer Berücksichtigung der gesellschaftlichen wie kulturellen Teilhabe zu reagieren ist; die im gegenwärtig sich vollziehenden Bedeutungswandel der kulturellen Bildung und ästhetischen Erziehung begründet liegen, deren lebenslange Notwendigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen insbesondere angesichts des demographischen Wandels nicht mehr negiert werden kann, de facto aber insbesondere in den Institutionen der Allgemeinbildung schweren Schaden erleidet. Jahrelang hat die Kultur in dieser Stadt aus der Defensive gelebt. In einer Zeit, die schwierig war und ist, hat Ökonomie – trotz der eigenen extremen Misere – die Meinungsführerschaft übernommen. Das steht in extremem Gegensatz zu Leistungen, die gerade Universitäten (45000 Wissenschaftler und 130000 Studenten) und Kultur zu Stande gebracht haben. Diese Tatsache muss zu einer Neubewertung der Bedeutung der Kultur für Berlin führen. Und dies geschieht bereits. Man kann es zum Beispiel sehen an der Wahl des „Economist“ (Ausgabe vom 10.08.2006), Berlin als Zentrum des Tanzes zu sehen, und das weltweit. Dies deckt sich mit Erfahrungen in vielen anderen Sparten. – Standortfaktor Kultur: Die Beweggründe für Menschen, Berlin zu besuchen, oder für Unternehmen als Standortentscheidung, finden sich in allererster Linie und an oberster Stelle begründet mit dem kulturellen Angebot der Stadt. – Künstlermetropole: Berlin übt eine ungeheure Anziehungskraft auf die künstlerischen Produzent/ innen aller Sparten aus, die sowohl als Ideengeber/innen als auch als Multiplikator/innen und Imageträger/innen gefördert und gehört werden sollten. Die Gentrifizierungsprozesse, die von der Kunst ausgingen, haben bereits in den vergangenen Jahren ganze Stadtteile Berlins verändert und positiv beeinflusst. Diese Entwicklungen gilt es im Interesse der gesamten Stadt behutsam zu erkennen, zu steuern und zu fördern. – Kulturkonzentration: Eine dichte Konzentration von führenden deutschen Kulturinstitutionen schafft sowohl durch Innovation als auch durch Wahrung des kulturellen Erbes, eine unvergleichliche Atmosphäre. – Arbeitsplatz Kultur: Direkt und indirekt sichert und schafft die Kultur viele Arbeitsplätze, während sie anderenorts verloren gehen. – Impetus für Entwicklung: Kunst und Kultur haben sich bereits in vielfacher Hinsicht als Impulsgeber und Initiatoren für Stadtentwicklung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger erwiesen. Investitionen in die Kultur dieser Stadt sind Investitionen in die Zukunft!
Deshalb ist notwendig:
1. Verbesserung des Kulturbudgets Ein klares Bekenntnis zur Bedeutung der Kunst und Kultur für die Zukunftssicherung der Stadt mit einhergehender Erhöhung des Kulturbudgets von Berlin auf 2% des Haushalts. Finanzielle Förder-Mittel sollen insbesondere den Arbeitsbereichen Kulturelle Bildung und Migration sowie freien Projekten in allen Kunstsparten zugute kommen.
2. Stadtstrukturelle Maßnahmen Einrichtung von interministeriellen Arbeitsstellen bzw. Arbeitsstrukturen zwischen Kultur und Bildung, Kultur und Soziales, Kultur und Wirtschaft, Kultur und Stadtentwicklung usw., Einbeziehung der Kultur und verpflichtende Beteiligung des künstlerischen und kulturellen Sachverstandes bei der Entwicklung von regionalen, bundes- bzw. EU-weiten Aktions- und Entwicklungsplänen, z.B. Stadtentwicklungskonzept Berlin 2020, Integrationskonzept, Landessenioren- und Landesjugendplan, Schulgesetz etc.
3. Finanztechnische Innovationen: – Einrichtung eines Fonds zur Kofinanzierung von EU-Projekten und eines Cultural Contact Point; Anpassung aller Förderrichtlinien an EU-Förderfähigkeit; – Schaffung von Matching Funds, in denen Sponsoring-Gelder durch die öffentliche Hand verdoppelt werden Überarbeitung der Richtlinien für Projektförderung, Ergänzung um innovative Konzepte der Finanzierung und Förderformen, zeitgemäße Anwendung der Landeshaushaltsordnung; – Ausgewogene Verhältnisse zwischen Projekt- und institutioneller Förderung; – Relativierung des Wiederholungsverbots für Förderung von Projekten; – Abschaffung der Fehlbedarfsfinanzierung, attraktive Fördermöglichkeiten, die wirtschaftliches Handeln und Einnahmen belohnen; – Flexibilisierung der zuwendungsrechtlichen Handhabungen im kulturellen Bereich, bei Einsparungen keine Kürzungen, sondern Belohnungen/Genehmigungen zur Umwidmung; – Schaffung von Fördermittelstrukturen, die flexibel agieren können, wie z.B. Stiftungen.
4. Neuordnung der Künstlerförderung – Problematisierung der wachsenden Zahl von prekären Arbeitsverhältnissen, Ablösung der 1-Euro- Jobs für Künstler/innen durch Arbeitsstipendien oder neu zu schaffende Arbeitsverhältnisse des zweiten Arbeitsmarktes – Erhöhung und Erweiterung des Fonds für Stipendien sowohl hinsichtlich der Kunstsparten wie auch der Antragsberechtigten (Künstler mit temporären Aufenthaltsabsichten, Altersbegrenzungen) – Öffentliche Einladungen an Künstler/innen und Kulturvermittler/innen aller Sparten für Berlin- Arbeitsaufenthalte analog zu Austauschprozessen im Wissenschaftsbereich
5. Verbesserungen der koordinierenden und konzeptionellen Maßnahmen Einrichtung einer Arbeitsstelle „Künstler – Bildungseinrichtungen“, die einen Fonds für Projekte betreut, der Künstler/innen und Schulen/ Bildungseinrichtungen für die Projektarbeit von Künstler/innen an Schulen, Kitas u.a. zur Verfügung steht, ggf. Schaffung einer Landesstiftung / Matchingsystem. Politisch Verantwortlich: Kultur – und Bildungssenator
6. Notwendige Schwerpunktsetzungen Neukonzeption einer Kulturpolitik und Kulturförderung im Bereich der Migrant/innen, Künstler/innen wie soziokulturelle Arbeit der Communities betreffend. Neuordnung der Förderstruktur und Sicherung der Partizipation durch Migrant/innen; Neuordnung der Aufgabenverteilung zwischen Senatsverwaltungen und Bezirken. Finanziell ausreichende Fördermittel.
7. Soziale Stadt und Kunst und Kultur Absicherung der Kultur in den Förderprogrammen der „Sozialen Stadt“ (Quartiersmanagement), Akzeptanz der Rolle von Kunst und Kultur im Kontext der Verbesserung der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, so wie dies auf europäischem Niveau inzwischen geschieht, und nicht kunstfeindliche „Schreckensherrschaft“ des Rechnungshofes.
8. Internetpräsentation im www Angemessene Werbestrategien der Stadt zur Unterstützung der Kunst- und Kulturangebote insbesondere im world wide web.
9. Präsenz der Kultur in den öffentlich rechtlichen Medien Sitz im Rundfunkrat für den Rat für die Künste, um den Dialog zwischen der aktuellen Kunst und deren Produktions- und Präsentationsorten und den öffentlich rechtlichen Berliner Medien zu intensivieren. Umstrukturierung des Offenen Kanals als Forum für Kultur und Medienkunst.
Konkrete Vorschläge für die Schwerpunktsetzung:
Obgleich der Rat für die Künste der festen Überzeugung ist, dass die spartenübergreifende kulturellkünstlerische Arbeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird und eine klare Abgrenzung zwischen den Künsten nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entspricht, sind im folgenden einige Beispiele aufgelistet, wie mit einer innovativen Schwerpunktsetzung und Förderung in einzelnen Bereichen bzw. Sparten neue Schwerpunkte gesetzt werden könnten, die weit über Berlin hinaus Signalwirkung hätten (Auflistung in alphabetischer Reihenfolge).
1. Kulturarbeit in den Bezirken – Verabschiedung eines Bezirkskulturgesetzes, in dem Kultur nicht mehr nur „freiwillige (zu kappende) Leistung“ ist, sondern das als Pflichtaufgabe vorgibt, dass Kulturangebote in den Bezirken, finanziert aus den Globalhaushalten der Bezirke, vorgehalten werden müssen.
– Rücknahme der Vorgaben der neuen produktbezogenen Haushaltsführung, die systemimmanenttechnokratisch die Finanzausstattung jenseits aller politischen Entscheidungsverantwortung kontinuierlich und nachhaltig absenkt und insbesondere die Bezirke bestraft, die in den vergangenen Jahren für eine angemessene bauliche Infrastruktur Sorge getragen haben.
– Erhöhung des Bezirkskulturfonds entsprechend der sozialen und kulturellen Defizite und daraus resultierenden Aufgaben in den jeweiligen Bezirken im Sinne von Wertausgleichsprogrammen, Absicherung eines überbezirklichen Projekte-Fonds für künstlerische und soziokulturelle Projekte im Bereich der dezentralen Kulturarbeit, gekoppelt mit den bezirklichen Mitteln als unabdingbare Basisförderung für Künstler, kleine regionale Institutionen und Projekte (auch Erstförderung!):„HKF für Stadtkultur“.
2. Bildende Kunst
– Bereitstellung eines angemessenen Ankaufsetats insbesondere für zeitgenössische Kunst
– Schaffung einer Kunsthalle für aktuelle Kunst
– Entwicklung eines Konzeptes für den Martin-Gropius-Bau
– Sicherung des Künstlerhauses Bethanien, Schaffung einer Medienwerkstatt (s.u. Medienkunst)
– keine Reduzierung, sondern Förderung des Kunst-Unterrichts in den Schulen.
3. Film
– Einführung einer zielgerichteten Kino-Projektförderung durch das Medienboard Berlin-Brandenburg
– Erhöhung der Kinoprogramm-Preisprämie als deutliche Förderung des Programm-Kinos
– Investitionszulagen zur Modernisierung von Filmtheatern, um ein Überleben neben Multiplex-Kinos zu ermöglichen.
4. Literatur/Poesie
– langfristige Sicherung der beiden Festivals in Berlin (Internationales Literaturfestival, Poesiefestival Berlin) als wichtige Maßnahme.
– strukturelle Absicherung der Häuser und deren Profilierung in Absprache mit den Verantwortlichen.
– nachhaltige Maßnahmen zur Leseförderung von Kindern, Förderung der Kinderliteratur, Sicherung von „LesArt“, Aufstockung des Medienbestandes und der Öffnungszeiten der Öffentlichen Bibliotheken unter Berücksichtigung der Nutzer nicht-deutscher Herkunftssprache.
5. Medienkunst
– entsprechend der sich wandelnden technologischen Möglichkeiten und der kulturwirtschaftlichen Bedeutung des Mediensektors: Schwerpunkt auf eine strukturelle Förderung von Medienkunst.
– Aufbau eines Medienzentrums zur Förderung von freien und angewandten Strategien sowie dem internationalen Diskurs .
6. Musik
Der Bereich Musik benötigt:
– eine nachhaltige Förderpolitik und eine Erhöhung der Fördermittel für freie Gruppen, um Projekte sowie Produktionen, Konzertreihen/Festivals, Dokumentationen, Musik-Ensembles, Musik- und Konzertvermittlung zu ermöglichen und zu pflegen.
– eine Basisförderung/Spielstättenförderung auch für Musikprojekte/-ensembles.
– eine Förderstruktur für Tourneeprojekte; freie Ensembles sollen öffentlich geförderten im Ausland steuerlich gleichgesetzt werden.
– keine Reduzierung, sondern Förderung des Musik-Unterrichts in den Schulen.
7. Tanz
– Stabilisierung vorhandener Strukturen, Einrichtungen und Ensembles
– Sicherung internationaler Festivals als wichtige Künstlerforen des internationalen Tanzes mit hoher Strahlkraft
– Schaffung kombinierter Ausbildungs- und Produktionsorte, insbesondere für das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz
8. Theater
– Wahrung der Vielfalt der Produktionsformen, besonders auch des Ensemble- und Repertoire-Theaters
– Erhöhung der Projektförderungsmittel für die Freie Szene auf den alten Stand von 1,5 Mio. Euro – Verstärkte Förderung von Kinder- und Jugendtheater und der Theaterarbeit mit Jungendlichen als Antwort auf die PISA-Ergebnisse
– Die Förderung der Privattheater sollte dreigliedrig geführt werden. Insbesondere sollte die Förderung der Privattheater für 4 Jahre auch für freie Gruppen geöffnet und realisiert werden.
Der Rat für die Künste bietet sein gebündeltes Wissen und seine Erfahrungen aus kulturellen und künstlerischen Zusammenhängen an, um in gemeinsamer Verantwortung für die Stadt Berlin die gemeinsame Zukunft zu prägen, um eine gesellschaftliche Vereinbarung für neue Schwerpunkte, gewandelte Sichtweisen und verantwortungsvolle Visionen zu schaffen.